Stand 04.07.2018

Hörstörungen und Seelische Folgen

Hörstörungen – Hörsturz – Tinnitus – Ohrgeräusche – Lärmeinwir­kung – Hyperakusis – Geräusch-Überempfindlichkeit – Hypakusis – Geräusch-Unterempfindlichkeit – Anakusis – Taubheit – akustisch Agnosie – Seelentaubheit – Presbyakusis – Schwerhörigkeit im Alter – psychogene (seelisch-bedingte) Hörstörung – Schwerhörigkeit – früh erworbene Hörstörung – spät erworbene Hörstörung – Hör-Vermögen und Lebensbewältigung: Alarmierung durch Schallreize, Schreck­haftigkeit, Orientierungsicherheit, Aufmerksamkeits-Zentrierung, Kommunikations-Voraussetzungen, emotionale und soziale Beziehungen etc. – psychosoziale Folgen der Schwerhörigkeit – pschiatrische Folgen der Schwerhörigkeit – Verhaltensempfehlungen für das Umfeld – u.a.m.

Hörstörungen waren früher ein eher verkanntes und von den Betroffenen verschämt verheimlichtes Leiden. Dies galt vor allem für die Schwerhörigkeit. Inzwischen sind auf diesem Gebiet die technischen Möglichkeiten so perfektioniert worden, dass sich hier der Leidensdruck in Grenzen halten lässt. Dafür nehmen zwei andere Beeinträchtigungen zu, und zwar offensichtlich beängstigend: Hörsturz und Tinnitus (Ohrgeräusche). Was muss man wissen, was kann man tun?

Der Mensch braucht den Gegensatz zwischen Schall und Stille, um seelisch gesund zu bleiben. Das ist vergleichbar mit dem Wechsel zwischen Ein- und Ausatmung. In einem völlig schalltoten Raum drohen nach wenigen Stunden psychotische Reaktionen (wie bei einer Geisteskrankheit), Desorientierung und Verwirrtheit.

Stille dagegen ist keine schall-tote, sondern eine schall-arme Situation, die der Erholung dient. Klang, Ton, Geräusche, Lärm oder Knall lassen sich zwar physikalisch bestimmen, doch ihre Bedeutung liegt in der jeweiligen Information, die auch emotional (gemütsmäßig) geprägt wird.

Lärm wird vor allem subjektiv, d. h. in unterschiedlicher Weise als lästig empfunden. Ab einer gewissen Intensität ist er aber gesundheitsschädlich: als kurzfristige Einwirkung ab 130 dB, längerfristig ab 85 dB. Dies betrifft sowohl den Arbeitsplatz, als auch die allgegenwärtige und ständig wachsende Lärmbelastung durch Industrialisierung, Straßenverkehr usw.

Ein gutes Beispiel sind die Schlafstörungen durch Lärmeinwirkung. Manche Menschen glauben zwar, dass sie sich (notgedrungen) an einen bestimmten Schallpegel gewöhnen können. Doch führen Straßenverkehr und insbesondere Fluglärm als chronische Lärmbelastung und ständigen Stressfaktor zu erheblichen Beeinträchtigungen.

Lärm führt vor allem zu rascherer Ermüdung, verlangsamter Reaktionsbereitschaft und damit vermehrten Fehlleistungen. Besonders im Kindesalter drohen Störungen der Konzentrations- und Leistungsfähigkeit, ja sogar der sozialen Beziehungen und des Wachstums.

Zwar lassen sich Gehörschutzkappen (im Betrieb), Ohrstöpsel und Gehörschutzwatte (auch zu Hause) nutzen, doch ist das nicht nur eine Beeinträchtigung der Lebensqualität, sondern kann auch bestimmte Missempfindungen auslösen (Gehörgang, subjektiv empfundene Atemenge u. a.).

Hörstörungen

Zu den Hörstörungen im weitesten Sinne gehören

Weitere Formen der Hörbehinderung sind

Schwerhörigkeit

Die Schwerhörigkeit umfasst eine quantitative Dimension („geringgradig“ bis „an Taubheit grenzend“) sowie eine qualitative Dimension (Schalleitungs-, Schallempfindungs- und zentral bedingte Schwerhörigkeit). Ursachen: vielfältige angeborene, krankheits- und verletzungsbedingte Defekte am Hörorgan.

Eine psychogene (rein seelisch ausgelöste) Hörstörung im Sinne einer Schwerhörigkeit ist z. B. die (seltene) hysterische Ertaubung sowie (häufiger) die depressionsbedingte Verminderung des Hörvermögens ohne organischen Befund, verstärkt bei bereits vorliegender Hypakusis (Geräuschunterempfindlichkeit).

Man differenziert in

Hörvermögen und Lebensbewältigung

Mit Schwerhörigkeit zu leben, ist für Guthörende fast nicht nachvollziehbar, da wir nicht einfach die Ohren verschließen können, wie das bei den Augen möglich ist. Nachfolgend deshalb einige stichwortartige Aspekte, die die Bedeutung des intakten Hörvermögens für die tägliche Lebensbewältigung verständlich machen sollen:

Die Schreckhaftigkeit ist gerade bei Hörgestörten besonders auffällig und zermürbend: ständig erhöhte Erwartungsspannung, innere Unruhe, gesteigerte Affektbereitschaft und dadurch erschwerte Besonnenheit, Gelassenheit und Entspannungsfähigkeit, Neigung zu Nervosität und psychovegetativen Störungen (fast zwei Drittel aller Hörgeschädigten?).

Räumliche Orientierungssicherheit: wichtiger Faktor unserer Wahrnehmungsfähigkeit (z. B. bei Blinden viel stärker ausgeprägt als bei Guthörenden).

Schwerhörigen geht es im Gespräch mit Guthörenden wie einem Ausländer in einer fremdsprachigen Gesprächsrunde: Bis Einzelheiten des Gesprächs dechiffriert (entschlüsselt) werden konnten, hat der Inhalt bereits gewechselt. Die Anstrengung um das laufende Verständnis braucht Zeit und alle Kräfte - und ist doch meist umsonst.

Psychosoziale Folgen der Schwerhörigkeit

Nach Einsetzen der Schwerhörigkeit lässt sich nicht mehr so unbefangen und selbstverständlich leben wie zuvor. Beispiele:

Ein Wahnkranker, der sich ständig beobachtet, beeinträchtigt und verfolgt fühlt, gerät vom normalen Umwelt-Vertrauen in ein albtraum-artiges Dasein. Oder: Der Hypochonder (d. h. die krankhafte Selbstbeobachtung) hat das Vertrauen in seinen eigenen Körper verloren. Generelle Schlussfolgerung: Mangelndes Vertrauen zermürbt den Betroffenen und vergiftet den Alltag durch Zweifel, Misstrauen und Angst.

Die Folge sind Unsicherheit mit sich selber sowie in der Beziehung zur Umwelt, ferner kräftezehrende Empfindsamkeit, ständige Erwartungsspannungen, Minderwertigkeitsgefühle usw.

Das verbreitete Bild vom schwierigen, misstrauischen, empfindlichen, leicht verletzbaren und aufbrausenden Schwerhörigen findet hier seine Erklärung. Ein berühmtes Beispiel ist der Komponist Ludwig van Beethoven, der einmal schrieb:

„Oh ihr Menschen, die ihr mich für feindselig, störrisch oder misanthropisch haltet oder erkläret, wie Unrecht tut ihr mir! Ihr wisst nicht die geheime Ursache von dem, was euch so scheinet. Mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens ... Aber bedenket nur, dass seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen von Jahr zu Jahr in der Hoffnung, gebessert zu werden, betrogen ... Mit einem feurigen, lebhaften Temperament geboren, selbst empfänglich für die Zerstreuung der Gesellschaft, musste ich mich früh absondern, einsam mein Leben zubringen. Wollte ich auch zuweilen mich einmal über alles das hinaussetzen, oh, wie hart wurde ich zurückgestoßen, und war es mir nicht möglich, den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreit, denn ich bin taub ...“

Zwei Drittel der Schwerhörigen finden sich in ständiger ärztlicher Behandlung, noch mehr nehmen regelmäßig mindestens ein Medikament (zumeist herz- und kreislaufstützende Präparate, Schmerzmittel, durchblutungsfördernde Substanzen, Psychopharmaka u. a.).

Früher sprach man sogar vom „Schwerhörigen-Verfolgungswahn“ und folgerte: Schwerhörigkeit führt vermehrt zu einer schizophrenen Psychose (Geisteskrankheit). Heute weiß man jedoch, dass Schwerhörigkeit zwar einen schizophren Erkrankten genauso belastet wie einen Gesunden, das eine das andere jedoch nicht gehäuft nach sich zieht.

Verhaltensempfehlungen bei schwerhörigen Mitmenschen

Einige Empfehlungen für den Umgang mit schwerhörigen Mitmenschen machen es beiden Seiten leichter. Beispiele, wie sie die Experten vermitteln:

Es gilt Schwerhörigen nicht nur beizustehen, sondern auch ständig zu ermuntern, zu ihrer Behinderung zu stehen und sie nicht zu verheimlichen. Schwerhörigkeit ist eine unsichtbare Behinderung. Mitmenschliche Rücksicht ist nur dann zu erwarten, wenn man darum bittet. Vor allem soll man einen bejahenden Verzicht auf nicht mehr leistbare Lebensentfaltung fördern oder kurz: sich mit der Behinderung konstruktiv abfinden. Denn:

Wer als Schwerhöriger glaubt, sein Leben wie zuvor weiterführen zu können, zersplittert seine Kräfte und gerät in Überforderung, Erschöpfung, seelische Verwundbarkeit, Verzweiflung und vielleicht sogar „dunkle Gedanken“.