Das Sehen ist unser wichtigster Sinn. Wahrscheinlich werden zwei Drittel aller für den Menschen bedeutsamen Informationen durch das Seh-System aufgenommen. Das dürfte sich in unserer heutigen, vor allem visuell ausgerichteten Gesellschaft noch erhöhen.
Für Deutschland schätzt man mehr als eine Million seh-behinderter Mitbürger und über 160.000 blinde Menschen. Die Ursachen für Blindheit sind in etwa der Hälfte der Fälle eine alters-abhängige Makula-Degeneration, gefolgt von Glaukom und diabetischer Retinopathie (jeweils fast jeder Fünfte) und schließlich Katarakt, Hornhaut-Trübungen, Erblindung in der Kindheit sowie andere Ursachen.
Auf jeden Fall gehört die Erblindung zu den härtesten Schicksalsschlägen. Sie hat erhebliche seelische, psychosoziale und sogar körperliche Auswirkungen (z. B. Stoffwechsel). Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen jenen Menschen, die niemals sehen konnten und solchen, die erst später ihr Sehvermögen verloren. Bei Letzteren wird wiederum differenziert in plötzliche und allmähliche Erblindung sowie Frühblinde, Spät-Erblindete und Altersblinde. Und hier wieder, ob Vollblindheit besteht oder noch ein Sehrest vorhanden ist. Bedeutsame Faktoren sind auch Erblindungs-Zeitraum, Persönlichkeitsstruktur, geistiges Niveau sowie Umfeld (Partner, Familie, Schule, Arbeitsplatz, Freunde usw.). Im Einzelnen:
Hier beginnt die Behinderung für den blinden Säugling, weil der Bewegungs-Anreiz fehlt. Sie wächst mit der Erweiterung des Lebensraumes: Sitzen, Stehen, Gehen und Laufen erfolgen verspätet, Kriechen überhaupt nicht. Es fehlt der Drang, Unbekanntes zu entdecken. Dies führt zu Furcht vor dem Ungewissen im Raum. Folge: ungenügender Bewegungsdrang, Teilnahmslosigkeit, Unbeholfenheit und Abhängigkeit. Die Spielgewohnheiten reduzieren sich auf den eigenen Körper. Es entwickeln sich bestimmte rhythmische und mimische Besonderheiten, so genannte Blinden-Gewohnheiten: Kopfwippen, Kopfdrehen, Rumpfschaukeln, Beuge-Bewegungen, Hüpf-Bewegungen am Ort, Drehen, Taumeln, Kreisen, Schlenkern (= Ausdruck eines nur teilweise befriedigten Bewegungsdranges und Umsetzung von Bewegungs- und Aggressionsmechanismen). Ferner Grimassenschneiden und Tics (Entladung des gehemmten seelisch-körperlichen Bewegungsdranges und Wunsch nach vermehrter Zuwendung). Dazu Augenbohren und Augendrücken, Handbewegungen (Anregung von Bewegung und Stoffwechsel, Ersatz für mangelnden Lichtreiz).
Die Folgen sind seelisch-körperliche Schablonen. Beispiele: verhaltene, zögernde und reduzierte Bewegungsmuster, gleichförmiger, vorsichtiger und sichernder als bei Sehenden. Gestraffte Gesamtbewegung. Selbst in Ruhe mangelhafte Entspannungsmöglichkeit. Kürzere und flachere Atembewegungen. Oberkörper fast unbewegt, Kopf geradeaus, Armbewegung eingeschränkt, Schultern leicht emporgezogen. Beine höher angehoben, Füße vorsichtiger aufgesetzt. Die Mimik der oberen Gesichtshälfte vermindert, die der unteren gesteigert.
Das Ganze dient der seelischen und sonstigen Sammlung zur raschen Auffassungsbereitschaft mit den noch verbliebenen Sinnesorganen. Das Weltbild der Blinden ist zwar unbewegter, die Welt-Anschauung dagegen verinnerlichter. Blind-Geborene besitzen nicht nur einen besseren Tastsinn (was sich auch diagnostisch nutzen lässt, z. B. bei so genannten „medizinischen Tast-Untersucherinnen“ bei der Brustkrebs-Vorsorge), sondern auch ein besseres Wortgedächtnis (früher dienten Blinde als „wandelnde Datenspeicher“, z. B. für mündliche Überlieferungen von Bibel-Interpretationen). Der Grund: Das Gehirn von Blinden ist sozusagen „umprogrammiert“.
Vorbeugung und Therapie
Präventiv und therapeutisch Gehör und Tastsinn sofort aktivieren (freundliches Sprechen, wechselnder Tonfall, Vorsingen von Kinderliedern durch alle Familienangehörigen = Stimmen unterscheiden lernen). Spielzeuge jeglicher Art (Übung des Tastsinnes und des Gehörs). Häufiges Ausführen ins Freie (zusätzliche Gehör-Eindrücke sammeln). Anleitung zum Kriechen auf dem Boden (Entdeckungen anregen). Klopfübungen (Klangunterscheidung). Geruchs-Eindrücke sammeln. Körperliche Übungen (Kräftigung, Stoffwechsel-Förderung). Zu Ordnung, Regelmäßigkeit, Sauberkeit und Selbständigkeit anleiten.
Außerdem Blinden-Beratungsstelle, Blinden-Kindergarten, Blinden-Schule, ggf. Blinden-Institut nutzen. Der Internats-Aufenthalt bietet dabei gute Beschulungs-Möglichkeit, entweder als Tagesheimschüler oder als reine Heimbetreuung (je nach Entfernung).
Die Erblindung ist ein ungeheures Trauma. Dies lässt sich in verschiedene Phasen einteilen:
Das führt zu einer hohen Anspannung. Doch die Grenzen der Möglichkeiten werden trotzdem nicht akzeptiert, eher die Phantasie bemüht. Auch wird die Behinderung nicht nur vor sich selber, sondern auch vor andern nicht eingestanden. Dieses Vermeidungsverhalten hat Folgen. Die Verleugnungs-Strategie nimmt sogar langfristige Schädigungen in Kauf (Manipulation nach außen und Verleugnung nach innen).
Die Konfrontations-Phase äußert sich oft in einem charakteristischen Beschwerdebild: geringe Frustrationstoleranz, Neigung zu Verärgerung bis hin zu Schimpfen, Poltern und Wutanfällen, Schaffung von Tabus und Sündenböcken. Versuch, die Realitätsverdrehung doch noch aufrechtzuerhalten, in dem man die anderen auf Distanz hält oder mit Schuldzuweisungen eindeckt.
In dieser Phase auch gehäufte Auseinandersetzungen mit Ärzten, Arbeitgeber, Arbeitsämtern, Rententrägern usw. Durch diesen Aggressions-Druck des Erblindeten kommt es immer wieder zum Einlenken der Umgebung - meist zu seinem Nachteil. Denn irgendwann droht die
Was kann man tun?
Therapeutisch empfehlen sich deshalb folgende Schritte:
In der Phase der Stagnation behutsame Konfrontation mit der Realität.
In der Phase der verzweifelten Wut Verständnis und Schutz.
In der Phase der Depression Zeit lassen, um die depressiven Inhalte entwickeln zu können.
In der Phase der Akzeptanz vorsichtige Aktivierung (Blinden-Hilfe wie Punktschrift, Mobilitätstraining, lebenspraktische Übungen u. a.).