Stand 09.07.2018

Stalking


Begriff – historische Aspekte (Liebeswahn, Erotomanie etc.) – Häufigkeit – Geschlecht – Zivilstand – Sozialstatus – Stalking-Taktiken und -Strategien – seelische, körperliche und psychosoziale Konsequenzen für die Opfer – Stalker-Typen: zurückgewiesene, nähe-suchende, inkompetente, nachtragende, räuberische, wahnhafte, rachsüchtige u. a. Stalker – Stalking und psychische Störung – Möglichkeiten und Grenzen einer Therapie von Stalkern und Opfern – Behandlung des psychisch kranken Stalkers – Behandlung der Opfer – u.a.m.

Ein früher nicht bekannter Fachbegriff geistert durch die Medien, natürlich aus dem Englischen: „Stalking“. Noch kann nicht jeder damit etwas Konkretes verbinden. Doch eines ist den meisten klar: Es hat was mit Liebe zu tun, verfehlter, belästigender, gewalttätiger, also krankhafter Liebe, so die Experten.

Tatsächlich handelt es sich um eines der psychiatrisch interessantesten Phänomene, wenngleich für die Opfer extrem belastend, vielleicht sogar den gesamten Lebensbezug zerstörend. Neu ist es allerdings nicht (übrigens praktisch alles, was die Psychologie, die Seelenkunde und die Psychiatrie, die Seelenheilkunde betrifft). Aber es wird offenbar immer häufiger und ist kriminalistisch, juristisch, soziologisch, psychologisch und psychiatrisch schwer zu fassen – zu Lasten der Opfer, immer häufiger auch Ärzte, Psychotherapeuten, Pflegepersonal u. a. Um was handelt es sich?


Allgemeine Aspekte

Und deshalb ist es auch so alt wie die Menschheit, auch wenn es erst seit Jahrzehnten zum wissenschaftlichen, Medien- und allgemein-interessierenden Thema hochstilisiert wurde. Und dies natürlich nicht durch das Leid des „unbekannten Opfers aus dem Alltag“, sondern durch die „moderne Form der Menschenhatz“, durch „obsessional followers“ im Rahmen des - auch einmal tödlich endenden - „Celebrity-Stalking“ oder „Star-Stalking“ berühmter Personen (siehe später), was vor allem die US-amerikanischen Lifestyle-Magazine und die „Yellow Press“ der mittleren 80er-Jahre elektrisierte.

Diese Hinweise gehen bis in die Antike, schon damals als „Erotomanie“ bezeichnet. Ende des 18. Jahrhunderts wendeten sich die Psychiater verstärkt der wahnhaft erlebten Zuneigung zu einem Opfer zu, z. B. als „erotische Verrücktheit“ bzw. Paranoia benannt. Berühmt wurde auch der „sensitive Beziehungswahn“, der sich vor allem auf das weibliche Geschlecht konzentrierte. Später sprach man von einer „Wunscherfüllungs-Psychose“, von einer „Abwehr-Neurose“ bei verdrängter Homosexualität und inzwischen vermehrt von einer Borderline-Persönlichkeitsstruktur durch frühkindliche Verlust-Erlebnisse.

Neuere Untersuchungen sprechen vor allem von einer psychosozialen Isolation mit Verlust familiärer Bindungen bei gleichzeitiger Zunahme des Medien-Konsums (ob Berichterstattung oder Filme), was sicherlich zur generellen Verbreitung des Stalking-Phänomens beigetragen hat.

Häufigkeit – Geschlecht – Zivilstand – Sozialstatus

Weibliche Stalker suchen jedoch im Gegensatz zu den männlichen eher Opfer aus, die sie vorher kannten und die nicht selten bei ihnen auch eine Helferrolle einnahmen (zunehmend Ärzte, vor allem Psychiater, aber auch psychotherapeutisch tätige Psychologen; für das Pflegepersonal liegen noch keine größeren Untersuchungen vor). Interessanterweise gibt es übrigens nicht nur das Stalker-Verhältnis Mann-Frau (in welcher Täter-Opfer-Relation auch immer), sondern auch in etwa 10% der Fälle gleichgeschlechtliches Stalking (Mann-Mann / Frau-Frau).

Daraus schließen die Wissenschaftler, dass Stalking das krankhafte Ergebnis eines fehlgeleiteten und aussichtlosen, dabei im Grunde langfristig angelegten Paarbildungs-Verhaltens ist, insbesondere von sexuell wenig Erfahrenen und nach gültigen Maßstäben auch wenig attraktiven „Tätern“.

Seelische, körperliche und psychosoziale Konsequenzen für die Opfer

Kaum untersucht sind die Opfer, denen man ohnehin oft genug eine überzogene, wenn nicht gar „hysterische“ Reaktionsweise unterstellt. Das ist eine doppelte Belastung. Denn was droht den Betroffenen?

Gleichwohl fürchtet man sich natürlich auch vor gewalttätigen Verhaltensweisen, über die die Statistik nebenbei noch am wenigsten Fundiertes zu berichten weiß. Die Häufigkeit gewalttätiger Übergriffe hängt nämlich von der jeweiligen Stichprobe ab und reicht von Ohrfeigen und Tritten bis zu schweren Formen der Körperverletzung (wobei Tötungsdelikte eher selten sind, ein schwacher Trost).

Interessant in diesem Zusammenhang: Weibliche Stalker sind dabei ähnlich riskant bis gefährlich wie männliche.

Wichtig zur Vorbeugung soweit möglich: In mehr als 8 von 10 Fällen gehen offener Gewaltanwendung verbale oder schriftliche Drohungen voraus. Und eine weitere Erkenntnis, die ebenfalls konkret verwertbar ist: Schwere Gewalttätigkeit hängt überdurchschnittlich häufig mit „ehemaliger sexueller Nähe zwischen Stalker und Opfer“ zusammen. Oder kurz: Ehemals enge Beziehungen sind in puncto Gewalttätigkeit riskanter.

Auch finden sich bei dieser Form von Stalkern weniger psychische, insbesondere psychotische Störungen. Hier geht es offenbar mehr um Kränkung als um seelische Störungen, insbesondere Psychosen (wobei psychisch Kranke dafür öfter fremde Personen überraschend angreifen).


Stalker-Typen

Deshalb eine Auswahl der wichtigsten so genannten Prägnanz-Typen, wie sie die Wissenschaftler (meist aus dem US-amerikanischen Bereich) derzeit zur Diskussion stellen:

  1. Der „zurückgewiesene Stalker“ (englischer Fachbegriff: rejected stalker) verfolgt hauptsächlich frühere Sexualpartner, nur selten Familienmitglieder oder Freunde. Das vorherrschende Motiv: Wiedergutmachung. Oftmals geht es diesen Tätern aber auch um die Kanalisierung von Rachegefühlen (die sich auf bestimmte Personen konzentrieren). Und um die Umwandlung von erlittenen Enttäuschungen (objektiv oder nur subjektiv empfunden) in aktives Vorgehen (von passiv erlitten zu aktiv, das Geschehen bestimmend). Häufig finden sich bei zurückgewiesenen Stalkern schon häusliche Gewalttaten in der Vorgeschichte.
  2. Beim „nähe-suchenden Stalker“ (intimate stalker) handelt es sich vorwiegend um Menschen mit einem Liebeswahn bzw. einer Erotomanie. „Nähe-suchende Stalker“ sind oftmals davon überzeugt, dass die gemütsmäßige Bindung, die sie (subjektiv) verspüren, auch erwidert wird (bzw. nur nicht zum Ausdruck kommt, quasi herausgelockt werden muss).

Wenn sich die unglücklichen Zielpersonen wehren und die Sache richtig stellen, dann reagieren sie mit Unverständnis oder völlig „taub“, ja, sie interpretieren selbst Zurückweisungen als (schwach) positive Antworten.

In der Vergangenheit sind diese Stalker in ihren intimen Beziehungen häufig frustriert, zurückgewiesen und enttäuscht worden. Durch das nähe-suchende Stalking bauen sie sich eine Schein-Beziehung auf, die es ihnen erlaubt, Hoffnungen und Träume zu entwickeln und zu leben - und sei es auf Kosten hilfloser Mitmenschen, die sie mit ihren Wünschen überrumpeln und deren Not sie (zumindest nicht völlig) realisieren.

Ein besonderer und meist spektakulärer, weil in den Medien hervorgehobener Stalker-Untertyp ist der schon erwähnte „Star-Stalker“. Bei ihnen ist das Opfer eine Frau oder ein Mann mit hohem Bekanntheitsgrad aus dem öffentlichen Leben (nicht selten aus dem Show-Business).

  1. Die „inkompetenten Stalker“ (incompetent suitor, also konkreter als „inkompetenter, letztlich typischer Verfolger“ bezeichnet) sind Charaktere, die im zwischenmenschlichen Bereich erhebliche Defizite ertragen müssen, die sie jedoch durch penetrantes (aufdringliches) Verhalten zu überspielen suchen. Ihnen geht es mehr um die Beziehung an sich. Die Situation oder Wünsche der Zielperson interessieren sie kaum. Auch sind sie nur selten verliebt, wie es bei den anderen Stalker-Typen zumindest angenommen werden kann.

Nachdem der “inkompetente Stalker“ seinen unerwünschten Kontakt zum Opfer aufgebaut hat, hebt er das Stalking in der Regel nach einigen Tagen oder zumindest Wochen wieder auf. Der ohnehin begrenzte Befriedigungs-Wunsch ist abgesättigt; meist locken jedoch neue Zielpersonen.

  1. Der „nachtragende Stalker“ (resentful stalker) will sein Opfer einschüchtern. Seine Motivation ist es, subjektiv empfundenes Unrecht oder persönlich erlittene Kränkungen zu sühnen.

Das Groteske daran: Hier stellt sich der Stalker selber als Opfer dar, das nicht anders konnte, vom Schicksal förmlich dazu gezwungen wurde. Der psychologische Verstärkermechanismus, der dieses eigenartige, meist krankhafte, aber letztlich (zumindest für den Stalker selber) nachvollziehbare Verhalten aufrechterhält, ist zum einen die Befriedigung und zum anderen das Gefühl von Macht und Kontrolle über das Opfer.

  1. Der Begriff des „räuberischen Stalker“ (predatory stalker) ist nicht sonderlich glücklich gewählt, spricht aber Bände. Ein „räuberischer Stalker“ versucht sich vor allem in sexuellen Attacken. Er zeichnet sich durch eine geduldige Beobachtung der Zielpersonen aus und - was die Tat anbelangt - durch eine bemerkenswert konsequente Kombination aus Informationsstand, Größenphantasien und Intrusionen, wie der Fachbegriff lautet (auf Deutsch: Eindringen, hier in den persönlichen und intimen Bereich eines Opfers).

Stalking ist in diesem Fall nur ein Mittel zum Zweck. Die Methode ist der Angriff; Gewinn und Vergnügen sind das Gefühl von Macht und Kontrolle. Dabei spielen nicht selten auch voyeuristische Anteile eine zusätzliche, verstärkende Rolle (Voyeurismus = krankhafte „Schaulust“, sexuelle Befriedigung bei der Beobachtung (sexueller) Handlungen anderer).

Als praxisrelevante und alltags-taugliche Kurzfassung haben sich die tonangebenden Institutionen auf drei Täter-Gruppen geeinigt, nämlich: 1. der nähe-suchende Stalker, 2. der wahnhafte Stalker und 3. der rachsüchtige Stalker. Gewalttätigkeit kann in allen drei Gruppen auftreten, wobei der nähe-suchende und wahnhafte Stalker schließlich auch zu einem rachsüchtigen Stalker werden kann.

Gewalttätigkeit in der Vorgeschichte der betreffenden Person ist das wichtigste Vorhersage-Kriterium, wie es weitergehen dürfte. Fehlende Gewalttätigkeit sagt aber leider nichts aus, bestehende um so mehr. Außerdem gilt eine interessante Faustregel:

Je geringer die vormalige Beziehung zwischen Stalker und Opfer, desto schwerer ist der Stalker offensichtlich psychisch gestört. Oder kurz: Wer gleichsam ohne nachvollziehbare Vorgeschichte (Kontakte, teils persönlich, teils durch Telefon, Brief, E-Mail u. a.) plötzlich und offenbar unausgewählt ein Opfer attackiert, ist besonders verdächtig auf eine seelische Störung (z. B. Schizophrenie, wahnhafte Störung, manische Hochstimmung, Liebeswahn u. a.).


Stalking und seelische Störung

Was bietet nun die derzeit diskutierte psychiatrische Stalking-Klassifizierung an verwertbaren Erkenntnissen?

Dabei wird besonders eines deutlich:

Psychisch krank im Rahmen eines Stalking heißt nicht nur Liebeswahn an sich. Dieses Phänomen mag eine Rolle spielen, aber keine dominante. Die Psychiater finden in dieser Gruppierung besonders Diagnosen wie Substanzmittelmissbrauch oder -abhängigkeit (meist Alkohol und Rauschdrogen), affektive Störungen (Depressionen und manische Hochstimmung), Anpassungsstörungen (reaktive Depression, Trauerreaktion u. a.), Schizophrenie und wahnhafte Störungen. Vor allem aber Persönlichkeitsstörungen, und hier nicht zuletzt histrionische (= hysterische), antisoziale, narzisstische und Borderline-Persönlichkeitsstörungen.


Möglichkeiten und Grenzen einer Therapie von Stalker und Opfer

Bestrafung der Täter, das ist der erste Gedanke, der einem in diesem Zusammenhang kommt. Das entscheidet das Gesetz. Hier aber stellt sich bereits die Frage: Ist der Stalker seelisch gesund? Wenn ja, gibt es keine Diskussion. Wenn nein, bedarf er einer Therapie. Denn wenn man nicht der krankhaften Grundlagen Herr wird, geht das ganze von vorne los, mit neuen Opfern.

Bei neurotischer Störung (nach alter Klassifikation) lauten die Therapie-Stichworte: tiefen-psychologische und/oder kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze. Bei Persönlichkeitsstörungen wird es schon schwieriger.

Sind Arzneimittel gefragt, dann handelt es sich meist um Psychopharmaka. Darüber gibt es noch weniger gesichertes Wissen. In der Regel wird man aber - je nach vorherrschendem Beschwerdebild - mit Antidepressiva und Neuroleptika (Antipsychotika) vorgehen. Eine besonders anti-aggressive Wirkung entfalten bekanntlich die so genannten Benzodiazepin-Tranquilizer (Beruhigungsmittel), bei denen aber schon bei kurz- bis mittelfristigem Gebrauch eine Suchtgefahr droht.

Hier kann aber eine ambulante stützende Psychotherapie (vor allem Gesprächspsychotherapie), kombiniert mit dem Erlernen von Entspannungsverfahren (autogenes Training, Yoga, Jacobson) manches mildern.

Schlafstörungen müssen medikamentös behoben werden. Beruhigungsmittel können vorübergehend nützlich sein. Antidepressiva sind wahrscheinlich nur selten zwingend.

Eine langfristige Erleichterung ergibt sich vor allem aus der Unterstützung eines verständnisvollen Umfelds. Das ist in der Regel auch zu erwarten, doch schämen sich viele Stalking-Opfer ob ihrer Ohnmacht und reden nicht darüber. Diese Einstellung sollte man überwinden. Reden (auch darüber!) ist entlastend. Im Übrigen nicht nur „reden - reden - reden“, sondern auch „gehen - gehen - gehen“, denn körperliche Aktivität, sofern akzeptiert und praktiziert, ist heilsamer, als die meisten ahnen.