Alle Jahre wieder interessieren sich die Medien vor den Weihnachts-Feiertagen für ein Phänomen, das es nicht gibt: die „Weihnachts-Depression“. Deshalb werden immer wieder Ärzte und Psychologen, insbesondere aber Psychiater angefragt, was es denn mit dieser Art von Melancholie auf sich habe. Die meisten Fachleute wissen sehr gut zu differenzieren zwischen einer echten Depression und einer „weihnachtlichen Gemüts-Intensivierung“, die sich natürlich auch gut vermarkten lässt. Trotzdem kommt es immer wieder zu Berichten in Presse, Funk und Fernsehen, die entweder nicht der Realität entsprechen oder wenigstens nicht so ganz eindeutig formuliert sind, was in der Allgemeinheit dann zu irrigen Ansichten führt - wie gesagt: alle Jahre wieder.
Das wäre an sich nicht so folgenschwer; es verwischt aber die notwendige Abgrenzung von der gerade zu Weihnachten üblichen „Stimmungslabilisierung“, die ja bekanntlich durchaus umsatzfördernd wirken kann („Rührseligkeit öffnet den Geldbeutel“) und der ernst zu nehmenden, oft qualvollen und ggf. suizid-gefährlichen Krankheit Depression.
Umgekehrt hat sich noch nicht so recht herumgesprochen, dass es dafür tatsächlich eine so genannte Herbst- und Winter-Depression gibt, die zwar weniger bedrohlich auszufallen pflegt, dafür aber immer häufiger fast regelmäßig die dunkle Jahreszeit belastet (siehe diese). Was also muss man wissen?
Die Ware Weihnacht ist nicht die wahre Weihnacht (K. Marti).
Eine Weihnachts-Depression gab und gibt es nicht, also auch keine vermehrten stationären Aufnahmen in (Fach-)Kliniken oder gar Selbsttötungsversuche. Das bestätigt auch die Telefonseelsorge, die ja in der Regel ein guter Gradmesser der jeweiligen Stimmungslage in der Allgemeinheit zu sein pflegt. Auch dort ist vor Weihnachten nicht unbedingt mehr los, eher danach.
Außerdem muss man unterscheiden lernen: Endogene, also biologisch fundierte Depressionen haben ihr Häufigkeits-Maximum in Frühjahr und Herbst. Die Winter- oder Lichtmangel-Depression droht vermehrt in der dunklen Jahreszeit von November bis Februar/März. Verstimmungszustände dagegen sind jahreszeitlich unabhängig und meist von äußeren, seelischen, psychosozialen, psychosomatischen und organischen Ursachen abhängig. Das Gleiche gilt für eine gewisse Gefühlslabilität, die jedoch in der Vor-Weihnachtszeit einen Höhepunkt erreichen kann. Eine Depression im krankhaften Sinne ist dies aber nicht.
Allerdings sollte man das ganze Jahr und während der Weihnachtszeit verstärkt auf Ältere, Alleinstehende, vor allem (noch nicht lange) Verwitwete oder Geschiedene achten sowie auf Kranke ohne Hoffnung, die niemand besucht. Kurz: Vereinsamte, Verlassene, vor allem die Stillen und still Gewordenen.
Gilt Weihnachten aber nicht auch als spezieller „Gemüts-Stress“? Psychopathologisch, also im seelisch-krankhaften Sinne ist die Weihnachtszeit auch in dieser Hinsicht kein statistisch relevanter Faktor. Doch geht die Weihnachts-Atmosphäre oder das, was man sich darunter vorzustellen pflegt, mit einer eigenen Gemütsbelastung einher, gewollt, wenn nicht gar (werbepsychologisch) gesteuert.
Das hat seine guten wie problematischen Seiten. So unterschätzt man gerne die zwischenmenschliche Belastung der Weihnachtszeit. Oft sieht man sich nämlich das ganze Jahr nicht, kommt aber wenigstens an Weihnachten „nach Hause“. Und das wird zum Stress eigener Art: Überzogene Erwartungen an die Familien-Harmonie, an Ruhe, Entspannung oder Festlichkeit, treffen letztlich auf Küchendienst, verunglückte Geschenke, das zweifellos vergebliche Bemühen, es allen recht zu machen, den kaum unterdrückbaren Wunsch nach einer Art Weihnachtsglücks-Empfindung der Kindheit u. a.
Jetzt kommen auch alte, in der Regel ungelöste Konflikte wieder zum Vorschein oder brechen gar eruptiv durch. Das wäre an sich nicht falsch, wenn man sie tatsächlich austragen würde, selbst an Weihnachten. Doch dafür droht das zweite Problem: der weihnachtliche Zwang zum „friedvollen Miteinander“, zu Liebe, Freude, Besinnlichkeit, Gemütlichkeit u. a., also eine mehr oder weniger demonstrative Gefühlswelt bzw. Fassade. Manche bezeichnen es sogar als „erzwungenen häuslichen Frieden“, wenn nicht gar als „weihnachtlichen Waffenstillstand“.
Was macht nun die „Stille Nacht, Heilige Nacht“ vielerorts und jedes Jahr wieder zum Krisenfest? Einzelheiten dazu siehe der Kasten mit den wichtigsten Gründen drohender Disharmonie laut einer Umfrage (Mehrfach-Nennungen möglich):
Zu hohe Erwartung an die Harmonie, erklärte mehr als jeder dritte Befragte, Menschen mit hoher Schulbildung deutlich häufiger als solche mit geringer, Besserverdienende öfter als solche mit weniger finanziellen Möglichkeiten.
Zu viele Besuchsverpflichtungen beklagte jeder Fünfte, vor allen die Jüngeren, während den Älteren dies kaum als Belastung erscheint (siehe später).
Zu reichlich Alkoholkonsum, behauptet jeder Zehnte. Das ist offensichtlich ein Krisenfaktor, der bei Menschen mit geringem Einkommen 5-mal häufiger ist als bei Gutverdienenden.
Streit ums Fernsehprogramm, ein sehr unterschiedlich eingestuftes, aber nicht unerhebliches Problem.
Enttäuschende Weihnachtsgeschenke sind ebenfalls kein Thema, irritieren nur jeden 20. (bei Menschen mit weniger Geld hingegen mehr als doppelt soviel).
Übermäßiges Essen ist eigentlich für alle kein Streitthema.
Ich kann es mir auch nicht erklären, warum gerade Weihnachten so belastend sein soll, gibt allerdings jeder Fünfte zu, fast doppelt so häufig die älteren Befragten.
Schlussfolgerung: Überzogene Vorstellungen und Erwartungen scheinen jedes Jahr die gleichen Probleme aufzuwerfen. Dass man zu nahe aufeinander sitzt, besonders mit jenen, die man sich nicht unbedingt selber aussuchen würde (die „liebe Familie“), ist auch nichts Neues.
Dieser „Stress“ kann sich allerdings auch einmal umkehren: Die Zahl der Einsamen nimmt zu. Und sie wird in Zukunft wachsen, mehr denn je.
Alles andere scheint hingegen kein Thema von Belang zu sein.
Bleiben eigentlich nur zwei Faktoren, die jeder im Grunde selber steuern könnte: Zu viel Illusionen und zu viele Kontaktverpflichtungen auf einmal, was die „Stille Nacht“ zu gefährden scheint - „alle Jahre wieder ...“
Nach chrismon 12 (2001) 10
Was kann man tun?
Das ist eine Frage, die sich jede Weihnachten stellt, anschließend wieder in Vergessenheit gerät und zwölf Monate später erneut an Aktualität gewinnt. Dabei ist die Antwort immer gleich:
Auf der rein vegetativen Seite sich in Essen und (Alkohol-)Trinken bescheiden.
Dafür mehr Bewegung, also der tägliche „Gesundmarsch“, am besten in freier Natur und möglichst bei Tageslicht. Letzteres ist vor allem in der dunklen Jahreszeit besonders wichtig, hilft es doch depressive Verstimmungen und Angststörungen zu lindern, wenn nicht gar zu vermeiden.
Schließlich sich rechtzeitig dem z. T. extrem hohen Reizpegel von allen Seiten zu entziehen versuchen: Licht, Lärm, Menschenmengen, Waren-Angebote, Zerstreuungsmöglichkeiten u. a.
Sich dafür wieder auf kleinere Dinge konzentrieren, so genannte Banalitäten in jeglicher Form, die man bisher übersehen hat.
Und durchaus wieder Zufriedenheit, Freundlichkeit, echte Gemütswärme, Zuhören, ja Lachen trainieren.
Und vor allem sei noch einmal eines wiederholt:
Wer alt, allein stehend und vereinsamt ist, hat jedes Jahr weniger Chancen auf ein Minimum an Zuwendung, zieht er sich doch schon von selber immer mehr ernüchtert, enttäuscht, desillusioniert, beschämt und schließlich verschüchtert-resigniert zurück. „Gibt es denn niemand“, lautet die immer wiederkehrende Frage der Betroffenen, „der hier einmal zwischen jung und alt vermitteln, eine Art „Kontaktbörse“ organisieren könnte?“ Wenigstens am „Fest der Liebe“? „Eine Viertelstunde mit jemand reden zu dürfen, das wäre schon ausreichend und das größte Weihnachtsgeschenk seit Jahren...“.
So oder ähnlich lauten die Seufzer oder Klagen, die man durchaus hören könnte - auch wenn die meisten wegzuhören scheinen. Man tut ja schon allerhand, zur Weichnachtszeit...
Doch Spenden geben oder sammeln ist zwar löblich, aber einfacher, als sich persönlich einzubringen. Hier wird man umdenken müssen. Denn die Einsamkeit wird - wenn die Entwicklung so weitergeht wie bisher - eines Tages zum Kernproblem unserer Gesellschaft werden, und zwar für mehr von uns, als wir ahnen. Hier sollte man gegensteuern, so lang noch Zeit ist - für die Gemeinschaft und für jeden Einzelnen von uns.