Stand 10.07.2018

Zwänge

Zwangsstörungen – Zwangskrankheiten – Zwangsneurose – zwangshafte Persönlichkeitsstörung


Alltagszwänge – harmlose Zwangsformen – krankhafte Zwänge – Zwangsstörungen – Zwangskrankheiten – Zwangsneurose – zwanghafte Persönlichkeitsstörungen – Beschwerdebild der Zwangsstörung – Zwangsgedanken – Zwangsvorstellungen – Zwangshandlungen – psychosoziale Zwangs-Folgen – Zwangs-Begleiterscheinungen – u.a.m.

Fast jeder kennt sie, die harmlosen Alltagszwänge. Sie können durchaus hilfreich sein, vor allem dort, wo es auf unbedingte Exaktheit ankommt. Auch kann man damit Kräfte sparen, weil alles „wie auf Schienen läuft“. Schließlich besteht das halbe Berufsleben aus Zwängen, und zuhause, in der Freizeit und sogar im Urlaub sieht das nicht viel anders aus. Zwänge, so scheint es, bestimmen unser Leben. Sie machen einen geordneten Ablauf erst möglich. Zwang ist also keineswegs etwas grundsätzlich Unvernünftiges, Behinderndes oder gar Krankhaftes.

Daneben gibt es harmlose Formen des Zwangs, die allerdings „grenzwertig“ zu werden beginnen: Manche erledigen ihre Aufgaben immer nach der gleichen Reihenfolge. Wenn das nicht geht, geraten sie aus dem Tritt, sind verunsichert oder verärgert, zumindest leidet die Gelassenheit, wenn nicht gar Effektivität. Andere kontrollieren mehr als nötig, sei es Haustür, Herd, Licht usw. Einige „schätzen halt Ordnung und Sauberkeit“, sei es im Haushalt, sei es am Arbeitsplatz. Ihrer Arbeit tut das eher gut, auch wenn sie mitunter belächelt werden. Gelegentlich fallen auch schon hier Begriffe wie „krankhaft genau“ oder „zwanghaft“. Das muss aber noch nicht der Fall sein. Wieder andere hüten sich vor Unglückszahlen und bestimmten Konstellationen im Alltag, über die sie zwar nicht oder nur ungern reden und an die sie auch nicht zwanghaft gebunden sind, aber wohlfühlen tun sie sich nicht, wenn sie ihre kleinen „Vorsichtsmaßnahmen“ nicht durchziehen können.

Manche „denken zuviel“, leider letztlich ineffektiv, weil immer dasselbe, und zwar ohne Sinn, Zweck und damit Lösung. Einige sorgen sich zuviel, nicht ganz abwegig zwar, aber letztlich ohne etwas ändern zu können. Wieder andere sind sogar „überängstlich“ und müssen mehr als andere darüber nachsinnen, ob nicht etwas Schreckliches passiert sein könnte, wo doch die ganze Welt voller Gefahren und Katastrophen ist. Einige haben sogar aggressive Gedanken oder Wünsche, aber völlig vereinnahmt werden sie davon nicht.

Vor allem hat das alles keine ernsteren Auswirkungen auf Lebensqualität, zwischenmenschliche Beziehungen, Arbeitsleistung und auf ihr so genanntes Zeitkontingent. Denn Zwänge kosten Zeit. Auf jeden Fall ist dies ein Punkt, bei dem sich die Grenze zum Krankhaften abzuzeichnen beginnt.


Krankhafter Zwang

Zwangsstörungen oder Zwangskrankheiten, früher Zwangsneurose genannt, sind also kein „zwanghaftes Verhalten“, wie man es häufig beobachten und auch noch tolerieren kann, ggf. sogar an sich selber. Zwangsstörungen sind eine extreme Steigerung relativ harmloser Gedanken und Handlungen mit entsprechenden Folgen: Sie erzeugen wachsenden Leidensdruck, sind zeitraubend, zermürbend, beschämend, seelisch beeinträchtigend, schließlich sogar körperlich belastend. Und sie können ein Leben vor allem zwischenmenschlich und beruflich ruinieren.

Zwänge sind alles beherrschende Erlebnisse. Sie werden vom Betroffenen zwar als unsinnig oder zumindest unangemessen erkannt - aber man ist machtlos gegen sie.

Die Zwangsstörung tritt letztlich in der gleichen Form auf wie die harmlosen Alltagszwänge der Gesunden, nur eben das Leben absorbierend bis versklavend durch Ordnungs-, Wasch-, Kontroll- und andere Zwänge, durch zwanghafte Befürchtungen und rituelle Handlungen (Ritual: Gesten, Handlungen oder Sätze nach einem festgelegten Ablauf bzw. einer bestimmten Ordnung). Zwangsstörungen entwickeln sich in der Regel schleichend, manchmal aufgrund eines bestimmten Auslösers, auf jeden Fall aber lange unerkannt, manchmal sogar für nahe Angehörige. Denn die Betroffenen neigen zur Verheimlichung ihres Problems aus Scham, Resignation und Hoffnungslosigkeit. Selbst heute finden sich viele Menschen, die mit Zwangsstörungen zu kämpfen haben, erst nach jahrelangem Leidensweg bei ihrem Arzt ein.


Das Beschwerdebild der Zwangsstörung

Zwänge drängen sich auf beim Denken, Vorstellen, Fragen, Sprechen und Zählen, beim Handeln und Vermeiden, beim Planen und Ausführen. In der Mehrzahl der Fälle setzt sich das Beschwerdebild aus Zwangsgedanken oder Zwangshandlungen zusammen, meist sogar aus beidem.

Zwänge müssen - wie erwähnt - nicht immer unsinnig sein und leichte Formen (Licht, Bügeleisen, Haustür, Wasch- oder Putzzwang) sind auch beim psychisch Gesunden nicht selten. Die Grenze zum Behindernden und Quälenden, also letztlich Krankhaften, ist meist fließend.

Was macht dann aber das Krankhafte aus? Vor allem die hartnäckige Aufdringlichkeit und die Unfähigkeit, sie zu steuern oder zu unterdrücken. Im Extremfall können Zwänge so groteske Formen annehmen, dass sie das Leben des Betroffenen ruinieren. Denn wenn er seinen Zwängen entrinnen will, drohen vielfältige körperliche Reaktionen, z. B. Schweißausbruch, Zittern, vor allem aber Angst. Deshalb hat man die Zwangsstörungen früher auch zu den Angststörungen gerechnet, kommt aber nach und nach zu der Erkenntnis, dass es sich um ein eigenständiges Leiden handelt.

Manchmal zeigen die Zwangsvorstellungen auch die erwähnten aggressiven Züge. Das äußert sich beispielsweise in dem „theoretischen Zwang“, Unanständiges aussprechen oder gar ausführen zu müssen, jemanden zu beschimpfen, ja selbst geliebte Personen, z. B. das eigene Kind oder gar sich selber zu verletzen oder zu töten. Allerdings kommt es so gut wie nie zur Ausführung dieser Zwangsideen, nicht zur Beschimpfung und schon gar nicht zu aggressiven Handlungen. „Zwangskranke sind Täter ohne Tat“, sagt man. Dafür leiden sie jedoch furchtbar unter diesen, ihnen ja wesensfremden Zwängen, die natürlich auch zu Selbstzweifeln und Selbstanklagen, zu Scham, Schuldgefühlen, Angst und Niedergeschlagenheit führen.

Weitere, vielleicht nicht ganz so bedrohliche, aber trotzdem unangenehme Zwangsgedanken beziehen sich auf Verschmutzung (von Reinigungs- und Lösungsmitteln über Krankheitskeime bis zu giftigen Abfallstoffen, Strahlen, Urin und Kot), auf sexuelle Inhalte („Verbotenes“, „Perverses“), auf religiöse und moralische Fragen (Sünde, Gotteslästerung) usw.

Schließlich die zwanghafte Furcht, bestimmte Dinge zu wissen, zu sagen, zu verlieren. Oder die extreme Besorgnis über körperliche Funktionen, Störungen oder äußerliche Veränderungen. Oder die Angst irgendetwas könnte unordentlich, schief, schräg oder wie auch immer aussehen und zu entsprechenden Klagen Anlass geben. Den zwanghaften Befürchtungen und Sorgen sind keine Grenzen gesetzt.

Viele dieser Zwänge erschöpfen sich aber nicht nur in der reinen Zwangshandlung, sie bauen sich immer raffinierter und dadurch zeitaufwendiger, mühseliger, schließlich alle Kräfte erschöpfend aus, z. B.: Treppe rauf, Treppe runter; oder exakt rechts oder links bzw. genau durch die Mitte einer Tür laufen und wieder zurück; Dokumente haargenau(!) übereinander legen; Reinigungszwänge nicht nur realistisch, sondern nach einem bestimmten Ritual durchführen, also Schuhe dreimal längs, dreimal quer und einmal diagonal auf der Fußmatte abputzen.

Solche, z. T. nicht nur umständlichen Entlastungsrituale („nur so komme ich zur Ruhe“) sind natürlich nicht nur lächerlich, sondern können den Betroffenen auch zwischenmenschlich und vor allem beruflich schaden. Ähnliches gilt für häufiges Händewaschen gegen AIDS, nur „gute Gedanken denken“ oder „Gutes tun, damit den Kindern nichts passiert“ u. a.

Auch gibt es die so genannte zwanghafte Verlangsamung mit zeitlupenhaftem Verhalten. Oder Ordnungs- und andere Zwänge, die nur unterbrochen werden können, in denen man bestimmte Zahlenabfolgen durchrechnet und sich dadurch kurzfristig befreit - bis der Zwang aufs Neue versklavt (und im Übrigen die geforderten Entlastungs-Rechnungen immer komplizierter werden lässt).

Oder „moderne“ Zwänge, z. B. die zwanghafte Befürchtung im Straßenverkehr durch unverzeihliche Unachtsamkeit andere behindert, gar angefahren und verletzt zu haben, vor allem beim Einparken, Abbiegen, Rückwärtsfahren, Einfädeln usw. Dies verbunden mit zwanghafter Rückkehr an den „Tatort“ mit ängstlich-zwanghafter Kontrolle, ob dort nicht ein verletzter Fußgänger, Fahrradfahrer, Hund usw. liegt und das ganze gegebenenfalls mehrmals hintereinander („vielleicht ist der Verletzte schon in einen Hausgang getragen worden ...“).


Begleiterscheinungen und Folgen

Zwangsgedanken und Zwangshandlungen nehmen viel Zeit in Anspruch, im Schnitt zwei Stunden pro Tag, meist mehr. Schon der im Alltag landläufig als „Perfektionismus“ bezeichnete Drang nach Ordnung kann sehr aufwendig sein. Um wie viel mehr eine Zwangsstörung, vor allem wenn sie in ein so genanntes Ordnungsritual mit ganzen Programmabläufen eingebunden ist. Dabei gehört dieses ritualisierte Verhalten zu der häufigsten Verlaufsform von Zwangshandlungen.

Die Folgen lassen sich leicht vorstellen. Sie beginnen in Partnerschaft und Familie und belasten schließlich den Freundeskreis, Freizeit, Hobbys und natürlich den Berufsalltag. Man denke nur an entsprechende Situationen in Schlaf- und Badezimmer, in Toilette und Küche, im Familienalltag bei Unterhaltungsspielen, Ausflügen, bei Treffen und sonstigen Veranstaltungen, von beruflichen Komplikationen ganz zu schweigen.

Und man stelle sich die Konsequenzen vor: Verwunderung, Irritation, Ärger, Hohn und Spott, entsprechende Kommentare, Aufforderungen, reizbare bis aggressive Reaktionen, Beschimpfungen, Verhöhnungen, Beschneidungen, Verbote, Versetzungen, Herabstufung, Kündigung, Wohnungs-, Orts- und Arbeitsplatzwechsel, schließlich Rückzug, Isolation, Arbeitsunfähigkeit, finanzielle Schwierigkeiten, ggf. Trennung oder Scheidung, sozialer Abstieg usw. Natürlich muss es nicht zu einem solch traurigen Ende kommen, aber völlig reaktionslos pflegt die Umgebung ein Zwangsverhalten nicht hinzunehmen, jedenfalls nicht auf Dauer.

Dabei hatten viele Zwangsgestörte schon vor Ausbruch der Erkrankung ihre liebe Not mit sich und anderen: Sie sind oft unsicher, entscheidungsschwach, ambivalent (was ist richtig, was soll ich tun?), haben nicht selten Angst vor Ablehnung durch andere, verfügen über ein nur geringes Selbstwertgefühl, sind furchtsam und unsicher (vor allem was Normen betrifft: was „man“ tut), entwickeln insbesondere Zukunfts- und Risikoängste, sind dabei von depressiven Stimmungen und sexuellen Störungen bedroht. Nach Ausbruch der Zwangskrankheit wird sich dies alles noch verstärken, ein Teufelskreis von Befürchtungen, „erahnten“ schlimmen Ereignissen und damit gesteigerten Angstvorstellungen setzt ein.


Anhang: Warum eine Zwangskrankheit so spät erkannt wird

Zwanghaftes Verhalten findet sich oft schon in der Kindheit. Etwa die Hälfte der erwachsenen Zwangskranken kann sich rückblickend an bestimmte Zwangsmerkmale im Kindesalter erinnern. Doch in jungen Jahren lässt sich das noch besser verbergen als später. Es kann Monate, ja Jahre dauern, bis es die Eltern und Geschwister bemerken. Schulkameraden und Lehrern bleibt Zwangsverhalten meist verborgen, weil es vertuscht wird, so lange es geht. Viele Eltern sind deshalb verwirrt, dass ihr Kind die Zwänge in der Schule oder bei Freunden unterdrücken kann, zu Hause aber nicht mehr zu kontrollieren vermag. Doch die Kontrolle ist so anstrengend, dass dafür zu Hause keine Kraft mehr verfügbar ist, man lässt sich „gehen“, um wenigstens in Schule und Freundeskreis nicht aufzufallen (wie übrigens später im Erwachsenenalter auch: dort kämpft man vor allem um eine möglichst lange Vertuschung am Arbeitsplatz).

Doch nach und nach ist auch das nicht mehr möglich. Manchmal wechseln die Zwänge, manchmal weiten sie sich aus. Meist dominiert ein spezieller Zwang über Monate und Jahre hinweg. In jungen Jahren ist das in der Regel ein Waschzwang, der allerdings auf Dauer besonders schlecht verheimlicht werden kann. Wie es nach Krankheitsbeginn in jungen Jahren weitergeht, ist schwer voraussagbar. Bei den einen kommt es zur spontanen Besserung (etwa ein Drittel?), bei den anderen belastet es ein Leben lang (jeder Fünfte?). Die Mehrzahl weist aber auch im späteren Leben wenigstens leichtere Zwangsmerkmale auf. Einfach haben es die Betroffenen deshalb auch in Zukunft nicht, vor allem im zwischenmenschlichen (Partnerschaft, Familie, Freundeskreis, Nachbarschaft) sowie im beruflichen Bereich.